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Mit den Pollen zurück in die Zukunft
Pollen plagen uns mit Heuschnupfen. Aber sie sind auch unglaublich nützlich für die Klimaforschung. Paläoökologe Willy Tinner erklärt, wie er dank uralten Pollenkörnern in die Klimazukunft schauen kann. Ein Einblick in die Pollen-Zeitmaschine.
Psilat, foveolat oder echinat. Glatt, mit Grübchen oder mit Stacheln. Oder mit Baculi, kleinen Stäbchen. Und mit Pori, den Öffnungen, mal eine, mal mehrere. Wenn Willy Tinner durchs Mikroskop blickt, öffnet sich vor ihm ein Universum aus verschiedensten Pollenkörnern, die so eigen aussehen, wie die lateinischen Bezeichnungen dazu klingen. «Pollen sind etwas Schönes», sagt der Professor für Paläoökologie an der Universität Bern, «und unglaublich vielfältig. Schauen Sie selbst!» Jede Pflanze produziert charakteristische Pollenkörner, die als männliche Keimzellen der Fortpflanzung dienen. Die Hüllen der Körner – die tatsächlich die wildesten Formen haben! –, bestehen aus Sporopollenin, einem sehr resistenten natürlichen Stoff. So überstehen Pollen Wind und Wetter – und zwar richtig lange: «Die ältesten Pollenkörner, die wir in der Forschung kennen, sind Millionen von Jahre alt», so Tinner.
Die Grundlage: die richtige Probe
Diese Widerstandsfähigkeit und das typische Aussehen nutzen Willy Tinner und sein Team für die Wissenschaft: «Paläoökologinnen und -ökologen bestimmen Pollen aus alten Bodenschichten und lesen daraus, wie die Vegetation vor Jahrtausenden ausgesehen hat.» Und die Forschenden gehen sogar noch weiter: Mit dem Wissen über die Vergangenheit prognostizieren sie im Oeschger Zentrum für Klimaforschung, welche Pflanzen angesichts des Klimawandels in Zukunft in einer Region wohl wachsen werden.
Doch alles beginnt mit uralten, gut erhaltenen Pollen. Wo findet man diese? «In natürlichen Archiven, etwa in Ablagerungen in Seen und Mooren. Da hier keine Luft eindringt, bleiben Pflanzenreste über Jahrtausende konserviert», erklärt Willy Tinner. Regelmässig brechen die Forschenden auf, um Bodenproben zu entnehmen – was sie oft auf einer Art Floss, ihrer «Bohrplattform», hinaus auf einen See führt. Das kann etwa der Gerzensee in Bern sein oder der Origliosee im Tessin oder ein See im Ausland, ganz nach Fragestellung.
Bohren, zählen, bestimmen, messen
Mit einem Stechrohrbohrer werden Sediment-Proben entnommen, die zusammengesetzt bis zu 20 Meter lang sein können. Zurück im Institut für Pflanzenwissenschaften an der Universität Bern werden aus den Schichten des Bohrkerns Pollenkörner gewaschen, zentrifugiert, mit Chemikalien herausgelöst. Unter dem Mikroskop bei 400- bis 1000-facher Vergrösserung werden sie gezählt und bestimmt. Dabei ist es nicht immer einfach «psilat, foveolat oder echinat» und viele weitere Attribute korrekt zuzuordnen. «Für die ganz sichere Bestimmung der Pollenarten braucht es zwei, drei Jahre Übung», erklärt Paläoökologe Tinner und wiegt ein Modell eines Weisstannen-Pollenkorns in seiner Hand. Um herauszufinden, wann denn die zugehörigen Pflanzen blühten, wird nun das Alter von grösseren Pflanzenresten wie Nadeln aus der Probe bestimmt. Dabei wird mittels Massenspektrometer die Masse bestimmter Kohlenstoffisotope gemessen, die im Laufe der Zeit natürlicherweise abnimmt. Aus dieser Abnahme lässt sich das Alter der Pflanzenreste und damit der Pollenproben errechnen. Man ahnt längst: Pollen können viel mehr als mit Heuschnupfen plagen (an dem übrigens auch Willy Tinner gelitten hat, «zum Glück nur eine Saison lang»).
Pollen, die ökologische Zeitmaschine
Und dann blüht die uralte Vegetation wieder auf – im Computermodell: Dank speziellen Programmen lassen sich aus Pollenarten und Pollenalter zusammen mit weiteren Faktoren aus der vergangenen Zeit – Insektenlarven, Kieselalgen, Pflanzenresten, Temperaturdaten – ganze ökologische Prozesse rekonstruieren. «Zum Beispiel, wie sich die Pflanzengemeinschaften seit der letzten Eiszeit vor 20’000 Jahren entwickelt haben oder wie sich der Wald im Zuge der menschlichen Besiedelung in seiner Struktur verändert hat», erklärt der Paläoökologe begeistert, so dass vor dem geistigen Auge einen Dschungel heranwächst.
Auf dieser Basis blicken die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Zukunft: In Simulationen werden Temperatur und Trockenheit erhöht, damit man beobachten kann, wie die Pflanzen mit dem Klimawandel umgehen – welche Arten bleiben, welche leiden und verschwinden. Auch Holzschlag durch Stürme, Verbiss und Feuer durch Trockenheit lassen sich einberechnen. Beispiele aus Tinners Modellen: «Die Mittelmeerregion kommt in den kommenden 100 bis 200 Jahren stark unter Druck. Da es wärmer, trockener wird und mehr Waldbrände zu erwarten sind, werden sich an den wärmsten Orten etwa Kulturen wie Olivenbäume und Getreide kaum halten können. Auch die Wälder verändern sich komplett.» Das Schweizer Mittelland mit «eher wenig Diversität» kommt ebenfalls in Bedrängnis. «Höhere Temperaturen werden Fichten- und Buchenwäldern zusetzen», so Tinner.
An diesem Punkt spielt die Paläoökologie ihre volle Stärke aus: «Da wir wissen, wie Vegetationsgemeinschaften in der Vergangenheit auf Störungen von aussen reagiert haben, können wir dies auch für die Zukunft prognostizieren. Und schliesslich Empfehlungen abgeben, wie man der Klimaerwärmung besser begegnen kann», fasst Willy Tinner zusammen. Etwa mit welchen Baumarten man einen Wald möglichst resistent gegen Brände machen kann. Ein Ausblick von enormer Tragweite. Und am Anfang lag da nur ein uraltes Pollenkorn unter einem Mikroskop.
Artikel von Bettina Jakob, erschienen im aha!magazin 2023, das man kostenlos abonnieren kann.