Nationale Fachtagung der SGE: «Boom des Jahrhunderts? Lebensmittelallergien»
Medienmitteilung der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE
Bern, 27. August 2015.
Am 27. August fand im Hochschulzentrum vonRoll in Bern die nationale Fachtagung der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung SGE, die in Zusammenarbeit mit der Stiftung aha! durchgeführt wurde, zum Thema «Boom des Jahrhunderts? Lebensmittelallergien und -unverträglichkeiten» statt. Vor gut gefüllten Rängen erläuterten und diskutierten Experten aus verschiedenen Fachgebieten die Herausforderungen bei Lebensmittelallergien und –unverträglichkeiten, die verschiedenen Formen, Therapien sowie weitere Themen.
Die Fachtagung der SGE begann mit der Konferenz von Matthias Schneider, Leiter Unternehmenskommunikation & Public Affairs bei Coca-Cola Schweiz, über das Thema Swiss Pledge, dessen Entwicklung sowie den Neuerungen. Seit dem Start der Initiative im Jahr 2010 hat sich die Teilnehmerzahl mehr als verdoppelt. Inzwischen engagieren sich 13 Unternehmen für ein verantwortungsvolles Marketing.
Die Teilnehmer konnten alsdann verschiedene Vorträge zu folgenden Themen verfolgen:
Herausforderungen und Unterstützung für Menschen mit Allergien und Intoleranzen
Zum Auftakt der Fachtagung zeigte Dr. Georg Schäppi, Geschäftsleiter von aha! Allergiezentrum Schweiz, auf, dass für betroffene Personen das Vermeiden von Lebensmitteln, die bestimmte Auslöser von Allergien und Intoleranzen enthalten, das einzige Mittel ist, eine Reaktion zu verhindern. Dies bedeutet konkret, dass sich Betroffene oder auch deren Angehörige letztlich permanent mit ihrer Problematik auseinandersetzen müssen – sei dies bei der Menüplanung, beim Einkaufen, beim Zubereiten der Mahlzeiten, ganz besonders auch bei der Verpflegung ausser Haus. Dies setzt seitens der Betroffenen und ihrer Angehörigen einen je nach Problematik sehr hohen Wissensstand zur Allergiethematik, zu Lebensmitteln sowie zur Deklaration von Lebensmitteln voraus. In schweren Fällen wird den Betroffenen das konsequente Mitführen eines Notfallsets empfohlen, um im Falle einer Anaphylaxie das Schlimmste verhindern zu können.
Allergien: Epidemiologie, Prävalenz, Diagnostik
Prof. Dr. med. Barbara Ballmer-Weber, Leitende Ärztin Allergiestation am Universitätsspital Zürich und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats aha!, erinnerte uns, dass die Nahrungsmittelallergie (NMA) in der Allgemeinbevölkerung als grosses Gesundheitsproblem gilt. Betroffen sind gemäss kürzlich veröffentlichten Bevölkerungsbeobachtungen mindestens 1–3 % der Bevölkerung. Studien aus Australien belegen eine Zunahme der nahrungsmittel-induzierten Anaphylaxie über 10 Jahre um über 200 %. Dies betrifft v.a. die frühkindliche Altersgruppe, wobei Erdnuss als Nahrungsmittel hauptursachlich beteiligt ist. Die höchste Inzidenz für fatale Nahrungsmittelanaphylaxien wurde jedoch im jüngeren Erwachsenenalter festgestellt.
Nahrungsmittelallergien manifestieren sich klinisch in sehr unterschiedlicher Weise. So können sie sich mit lediglich harmlosen Beschwerden in Form von lokalen oralen Symptomen über Systembeschwerden bis zum anaphylaktischen Schock präsentieren. Faktoren, die zu einem schwereren klinischen Verlauf einer Nahrungsmittelallergie führen können, sind Anstrengung, emotionale Belastung, Alkohol, gleichzeitig eingenommene Medikamente aber auch Komorbiditäten wie Asthma bronchiale oder kardiovaskuläre Erkrankungen.
Wie bei jeder Allergie vom Soforttyp werden auch bei der Diagnose einer NMA primär Hautteste durchgeführt und spezifische Ig-Antikörper im Serum gemessen.
Lebensmittelunverträglichkeit: Epidemiologie, Prävalenz, Diagnostik
Prof. Dr. med. François Spertini von der CHUV Lausanne und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von aha!, sprach dann über die Epidemiologie, die Prävalenz und Diagnostik bei Lebensmittelunverträglichkeiten.
Ernährungstherapie bei Lebensmittelallergien und Intoleranzen
Daniel Gianelli, Ernährungsberater FH und Leiter Ernährungsberatung und Verpflegung in der Hochgebirgsklinik Davos, erklärte, dass die diagnostischen und vor allem therapeutischen Interventionen bei Verdacht auf Nahrungsmittelallergien nur zielführend sind, wenn unbeabsichtigter Verzehr, aber auch das übertriebene restriktive Verbot von unverdächtigen Nahrungsmitteln vermieden werden. Wegen der Komplexität der Nahrungsmittelallergie müssen die jeweiligen Karenzempfehlungen immer individuell und in enger Abstimmung zwischen Arzt und allergologischer Ernährungstherapeutin erarbeitet, überprüft und gesichert werden.
Im Rahmen einer individuellen Ernährungstherapie werden die Voraussetzungen für die notwendige Karenz und einer dennoch bedarfsdeckenden Ernährung geschaffen.
Allergieprävention und Desensibilisierung
Prof. Dr. med. Philippe Eigenmann vom Universitätsspital Genf und Mitglied des wissenschaftlicher Beirat von aha! erinnerte uns daran, dass die Ernährung von Säuglingen ein möglicher Ansatzpunkt für die Verhinderung von Allergien sein kann, Heute ermutigt man die Mütter zum Stillen ihrer Kinder gemäss den Empfehlungen der WHO. Sollte dies nicht möglich sein, ist eine hydrolysierte Säuglingsnahrung bzw. Milch von wissenschaftlich erwiesener Wirkung zu empfehlen. Andererseits sollte eine werdende oder stillende Mutter während der Schwangerschaft oder in der Stillzeit keine Diät machen.
Für möglicherweise auftretende Lebensmittelallergien gibt es derzeit noch kein Heilmittel. In den vergangenen Jahren erforschte man die Möglichkeit der Induktion einer oralen Toleranz. Bei manchen Patienten war sie teilweise erfolgreich und führte zu einer vorübergehenden Desensibilisierung. Eine breit angelegte Anwendung ist jedoch noch nicht zu empfehlen.
Lebensmittel-Allergien und -Unverträglichkeiten: Psychologische Aspekte
Helena Kistler-Elmer, dipl. Ernährungsberaterin HF, zeigte in ihrem Referat auf, wie das Essen und die Psyche eng zusammenhängen. So belasten Allergien und Unverträglichkeiten die Psyche und das damit verbundene Wohlbefinden stets mit. Das reicht von Unwohlsein, Erschöpfungszuständen, erhöhter Reizbarkeit und Nervosität bis hin zu Minderwertigkeitsgefühlen oder Versagensängsten. Löst eine Allergie oder Unverträglichkeit auch noch sichtbare Symptome aus, kommen oft Schamgefühle, Rückzugstendenzen und Angst vor Isolation dazu. Das beeinflusst die Beziehungen zu anderen erheblich und vermindert die Lebensqualität. Im Zentrum einer Begleitung steht darum die Frage, wie genau die Verknüpfungen zwischen Essen, psychoemotionalem und psychosozialem Geschehen die Lebensqualität und das Wohlsein beeinflussen. Diese Aspekte gilt es über die nahrungsinduzierten Empfehlungen hinaus mit einzubeziehen sowie achtsam zu differenzieren, inwiefern sich hinter diesen Symptomen eine Essstörung, ein drohendes Burnout, eine Depression oder allenfalls eine Angststörung abzeichnet. Frühzeitig gilt es bei Bedarf das interdisziplinäre Zusammenspiel verschiedener Begleitpersonen mit aufzugleisen.
Am Nachmittag hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an verschiedenen Ateliers die Möglichkeit, Best-Practice-Modelle, Allergien als Modeerscheinung, die Situation in der Gemeinschaftsverpflegung, sowie die Frage, ob es Labels braucht, zu diskutieren.
Die Tagung wurde in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV, aha! Allergiezentrum Schweiz, der IG Zöliakie der Deutschschweiz und dem Schweizerischen Verband der diplomierten Ernährungsberater/innen HF/FH SVDE durchgeführt. Weitere Partner der Tagung waren das Bundesamt für Landwirtschaft BLW und Gesundheitsförderung Schweiz.
Weitere Informationen: Präsentationen und Zusammenfassung
Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE
Die SGE ist die nationale Organisation für Ernährungsfragen. Sie klärt die Bevölkerung und die Fachwelt mit wissenschaftlich abgesicherten Informationen auf und zählt rund 7000 Mitglieder und Abonnenten, die meisten davon Fachleute aus dem Ernährungs-, Gesundheits- und Bildungsbereich sowie ernährungsinteressierte Konsumenten.