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07.09.2021

Orale Provokation: mit voller Absicht

Jede Woche werden in der Kinderklinik unter der Leitung von Allergologe und Kinderarzt Oliver Fuchs fünfzehn bis zwanzig orale Provokationstests bei Allergien durchgeführt. Aber warum setzt man sein Kind freiwillig einer potenziellen Gefahrenquelle aus?

«Mittels der oralen Provokation können wir eine Allergie auf einen bestimmten Auslöser definitiv bestätigen oder ausschliessen. Ausserdem lässt sich herausfinden, ab welcher Menge allergische Symptome auftreten», klärt Oliver Fuchs auf. In erster Linie werden mittels Provokation Nahrungsmittel getestet, aber auch Medikamente oder Insektengift sind möglich. Steht der Auslöser definitiv fest, gibt dies den Eltern und betroffenen Kindern mehr Sicherheit im täglichen Umgang mit der Allergie – und vereinfacht so den Alltag. Der Bedarf ist gross: Wer einen Termin möchte, muss sich fast ein halbes Jahr auf die Testung gedulden.

Aus der Praxis

Kaum war das Müesli mit Sojamilch gegessen, musste Nicolas erbrechen. Ein Magen-Darm-Infekt? Nicolas Mama Hannah war alarmiert, denn das Symptom kommt ihr bekannt vor: Bereits seit Babyalter leidet Nicolas an einer Milchallergie. Als der Sechsjährige dazu plötzlich energielos wirkt, ruft sie die Ambulanz an; sie fürchtet einen allergischen Schock. Mit Blaulicht geht’s ins Spital und dank der richtigen Behandlung fühlt sich Nicolas rasch wieder besser. Noch ist aber nicht klar, welche Zutat im Müesli die Allergie ausgelöst hat. In Verdacht stehen: Nüsse, Erdnüsse, Sesam. Vorerst verzichtet die Familie auf diese potenziellen Allergene; selbst um Nahrungsmittel, die nur Spuren enthalten, macht Mama Hannah einen Bogen. Eine enorme Einschränkung für alle. Aber ist diese überhaupt notwendig?

Detektivarbeit – aufs Milligramm genau

Um der Allergie auf die Spur zu kommen, sind Mutter und Sohn heute erneut in der Kinderklinik bei Dr. med. Oliver Fuchs. Eine umfassende Abklärung mit Krankengeschichte sowie Haut- und Bluttests hat Nicolas bereits hinter sich. Erste Provokationen mit Nahrungsmittel haben ebenfalls schon stattgefunden – mit klarem Ergebnis: Bereits ein Cashew-Kern kann für ihn gefährlich werden; Mandeln, Haselnüsse und Erdnüsse konnten glücklicherweise als Allergene ausgeschlossen werden. Nun steht ein halbleerer Joghurtbecher mit einzelnen Sesamkörnern vor Nicolas: Gestartet hat er am Morgen mit 0,02 Gramm, kurz vor Mittag folgt nun die letzte Stufe mit 16 Gramm Sesam. «Gar nicht so einfach, diese Menge Sesam in ein halbwegs geniessbares Menü zu verwandeln», meint Mutter Hannah lachend und streicht die Paste zwischen Lyoner Wurst und Brötchen. Nicolas schaut kurz auf und widmet sich dann wieder seinem Spiel.

Exakt getaktet

Eine orale Nahrungsmittelprovokation läuft immer nach diesem Schema ab. Der betroffenen Person wird in genau festgelegten zeitlichen Abständen eine bestimmte Dosis des verdächtigen Nahrungsmittels zu essen oder zu trinken gegeben. Mit welcher Menge begonnen und wie sie gesteigert wird, ist exakt definiert und unterscheidet sich je nach Allergen. Während des ganzen Prozederes werden die Vitalwerte der getesteten Person wie etwa Puls und Blutdruck engmaschig überwacht. Kinderarzt Fuchs: «Sollte es zu einer allergischen Reaktion kommen, brechen wir bei ersten klaren Zeichen und im Zweifelsfall bei wiederholten Anzeichen die Testung sofort ab und verabreichen, falls medizinisch notwendig, Notfallmedikamente.» Antihistaminika, Steroide oder eine Adrenalin-Fertigspritze sind immer griffbereit. Um aber schwere allergische Reaktionen möglichst zu vermeiden, wird vor jedem Test anhand einer umfangreichen Diagnose das Risiko einer solchen Anaphylaxie ermittelt. Ist die Gefahr hoch, wird der betroffenen Person zusätzlich ein intravenöser Zugang gelegt, um einen Teil der Notfallmedikamente gegebenenfalls rascher zu verabreichen. Wie viele Provokationen notwendig sind, ist von verschiedenen Faktoren abhängig. «Bei Lebensmitteln ist die Zusammensetzung der Mahlzeit, nach der Symptome aufgetaucht sind, ausschlaggebend», erklärt Fuchs und ergänzt: «Auch die botanische Verwandtschaft muss einkalkuliert werden. Reagiert jemand beispielsweise auf Haselnüsse, sollten eventuell auch andere Nussarten getestet werden, da deren Allergene ähnlich sind und darum Kreuzreaktionen auftreten können.»

Mit Fingerspitzengefühl

«Das mag ich nicht!» – so oder ähnlich kennen es wohl viele Eltern vom Mittagstisch zuhause. Mit diesen Herausforderungen sieht sich auch das Team von Oliver Fuchs immer wieder konfrontiert. «Bei uns kommt es natürlich ebenfalls vor, dass ein Kind etwas nicht essen mag. Da braucht es etwas Geduld und ein paar Tricks.» Wie etwa ein Stück allseits beliebter Lyoner als Geschmackstarnung. «Zudem braucht es Erfahrung, um zu erkennen, ob das Kind erbricht, weil es ein Nahrungsmittel nicht mag oder weil es allergisch reagiert.» Bis jetzt bleibt es im Raum für Provokationstestungen jedoch ruhig: Ein Kind fährt ein Spielzeugauto spazieren, ein anderes sucht sich ein neues Buch heraus und Nicolas nimmt den nächsten Bissen vom Sesam-Lyoner-Sandwich.

Kontinuierlich betreut

Kurz vor elf Uhr: Nicolas hat das Prozedere hinter sich, bisher ohne Beschwerden. Jetzt heisst es abwarten, ob noch Reaktionen auftauchen. Hannah ist froh, dass Sesam als Allergieauslöser damit ebenfalls wegfällt. «Das gibt uns wieder mehr Spielraum für unsere Menüs zurück.» Wie geht es nun weiter? Oliver Fuchs: «Um den Verlauf zu beobachten, bleiben die allergisch-getesteten Kinder automatisch in der Betreuung der Kinderklinik.» Etwa, um frühzeitig zu erkennen, ob eine neue Allergie hinzukommt oder ob sich eine Allergie wieder auswächst. «Gerade bei kleineren Kindern ist die Chance, dass sie etwa bei einer Ei- oder Milchallergie eine Toleranz entwickeln, gross. Darum machen wir im Abstand von sechs Monaten wiederum Tests», erklärt der Experte. Bis in die Pubertät bleibt der regelmässige Austausch mit dem Arzt oder Ärztin wichtig. Sei es etwa auch um zu zeigen, dass der Verzicht auf den Allergieauslöser wirklich ernst zu nehmen ist. Auf Wiedersehen also, lieber Nicolas und liebe Hannah.

Text erschienen im aha!magazin, das man kostenlos abonnieren kann.

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